Gott und Mensch Dialog Religion Magie als Wissenschaft

Quelle: D. Rüggeberg: Christentum und Atheismus im Vergleich zu Okkultismus und Magie.

Gott und Mensch — Die Analogiegesetze

Für diese vergleichende Betrachtung ist es notwendig, die esoterischen oder okkulten Lehren der Geisteswissenschaft in den Mittelpunkt zu stellen, weil die Bibel hier nur als der exoterische Ausdruck einer dahinterstehenden esoterischen Lehre angesehen wird. Die hinter der Bibel stehende esoterische Lehre wird Kabbalah (Kabbalah) genannt und ist ein Teil der hebräischen Mystik. Nach meiner Auffassung ist ein tieferes Verständnis der Bibel ohne Berücksichtigung der Kabbalah nicht möglich, was ich im Laufe meiner Ausführungen versuchen werde zu beweisen. Zu diesem Zwecke ist es notwendig, daß sich der Leser mit einigen Begriffen vertraut macht, die mit dem sogenannten kabbalistischen Lebensbaum oder Sefirothbaum zusammenhängen. Zur besseren Orientierung habe ich die wichtigsten Teile dieses Lebensbaumes in der Tabelle auf Seite 17 zusammengefaßt. Die Grundlagen der Tabelle wurden zusammengestellt aus einer Illustration von Robert Fludd mit Namen „Causarum Universalium Speculum“ aus seinem Werk „Medicina Catholica“.

          In der kabbalistischen Philosophie wird unterschieden zwischen der verborgenen und der offenbaren oder wahrnehmbaren Seite Gottes. Die verborgene Seite Gottes wird in der Kabbalah als „En-Soph“ bezeichnet und in der orientalischen Esoterik „Akasha“ genannt. Andere Bezeichnungen dafür sind „Ätherprinzip“ oder auch „Uräther“, worüber Bardon schrieb: „Schon bei der Beschreibung der Elemente habe ich einige Male erwähnt, daß dieselben aus dem Ätherprinzip entstanden sind. Infolgedessen ist das Ätherprinzip das Höchste, Mächtigste, Unvorstellbare, das Ursein, der Urgrund aller Dinge und alles Erschaffenen; es ist, mit einem Wort gesagt, die Ursachensphäre. Die Religionen bezeichnen es mit Gott (6).“

          Im Gegensatz zur verborgenen Seite Gottes gelten die zehn Sefiroth als die offenbarte Seite Gottes. Nach der Kabbalah umfassen die zehn Sefiroth das gesamte Universum. Gershom Scholem vermerkt zu den beiden Seiten Gottes u. a.: „Die Schwierigkeit des Begriffes liegt vielmehr ja eben darin, daß die Emanation der Sefiroth ein Vorgang in Gott selber ist, der aber gleichzeitig dem Menschen die Möglichkeit gibt, Gott zu erreichen. In der Emanation der Sefiroth bricht irgend etwas in Gott auf und bricht durch die verschlossene Schale seines verborgenen Wesens. Dieses Etwas ist die Schöpferkraft Gottes, die aber nicht nur in der irdischen Schöpfung lebt, obwohl es natürlich auch in ihr lebt und immanent ist und aus ihr heraus erkennbar ist. Diese Schöpferkraft erscheint dem Kabbalisten eben als eine eigene theosophische Welt, die der natürlichen Welt vorangeht und ihr übergeordnet ist. Der verborgene Gott, En-Sof, erscheint also der Intuition des Kabbalisten unter zehn verschiedenen Aspekten oder Manifestationen, die aber in Wirklichkeit unendlich viele Schattierungen und Abstufungen in sich selber haben. Jede dieser Stufen wird mit einem eigenen symbolischen Namen bezeichnet, je nach der besonderen Art, in der sie wirkt. Alle zusammen ergeben ein kompliziertes Gebäude mystischer Symbolik. Fast jedes Wort der Bibel korrespondiert mit einer dieser Sefiroth, was aus den verschiedenartigsten Motiven heraus erklärt wird. — Dieser Prozeß der Aufspaltung des göttlichen Bewußtseins wird von einer der tiefsten Symboliken des Sohar als ein Prozeß der fortschreitenden Entfaltung des lebendigen Gottes selbst gedeutet (7).“ Und in seinem Werk „Von der mystischen Gestalt der Gottheit“: „Man darf das Prinzip, das dabei zugrunde liegt, vielleicht so formulieren: die verborgene Gottheit En-Sof, das Unendliche —, wie sie in der Tiefe ihres eigenen Wesens unerkennbar ruht, ist gestaltlos. — Die wirkende Gottheit erscheint als die dynamische Einheit der Sefiroth, die den „Sefiroth-Baum“ bilden, und als der mystische Mensch, der nichts anderes ist als die verborgene Gestalt der Gottheit selbst. ... Sein Leben äußert sich auf zehn Stufen, deren jede ihn zugleich verhüllt und offenbart. ... Sind doch die Sefiroth der Kabbalisten, kurz gesagt, nichts als die Totalität der erscheinenden oder, besser gesagt, der tätigen Gottheit. Diese wirkt sich in der Fülle ihrer Allmacht in den Sefiroth aus, von denen jede eine Seite ihrer Natur zum Ausdruck bringt. Jede einzelne dieser Potenzen erscheint unter einer Fülle symbolischer Repräsentationen. — Die eine ist in der Sprache der Kabbalisten En-Sof, die indifferente Einheit und ewig in sich ruhende Wurzel und Koinzidenz aller Widersprüche; die andere ist die Welt der zehn Sefiroth, welche die heiligen Namen, das heißt Aspekte Gottes, und die zehn Schöpfungsworte (logoi) Gottes sind (8).“


Der Kabbalistische Lebensbaum

Gott ‒ Akasha ‒ En-Soph

10 Sefiroth

Hierarchie-

Sphären-Himmel

Engelgruppe

Hauptengel

Hauptsphären

1. Kether (Cheter)

2. Chochma (Hochma)

3. Binah

4. Chesed

5. Geburah (Din)

6. Tiphereth

7. Nezach (Netreth)

8. Hod

9. Jesod

JHVH= Jod-HeVau-He

Sternenhimmel (Tierkreis)

Saturnsphäre

Jupitersphäre

Marssphäre

Sonnensphäre

Venussphäre

Merkursphäre

Mondsphäre

Seraphin

Cherubin

Throni

Herrschaften (Dominationes)

Mächte (Principatus)

Gewalten (Potestates)

Tugenden (Virtutes)

Erzengel (Archangeli)

Engel (Angeli)

Metatron

Jophiel

Zaphkiel

Zadkiel

Samael

Michael

Hanael

Raphael

Gabriel

Geist = Vater

Seele =Sohn

Körper =Heiliger Geist


10. Malchuth (Reich)

Erde = 4 Elemente

1. Feuer = Jod

2. Luft = He

3. Wasser = Vau

4. Erde = He

Seele des Messias

Mensch

a) Geist

b) Seele

c) Körper


3 Welten-Ebenen

1. Geistig-mental

2. Seelisch-astral

3. Physisch-grobstofflich



             Zum Sefirothbaum führte Bardon u. a. aus: „Bei der Schöpfung entstanden vor allem zehn Grundideen, welche in der Kabbalah durch die sogenannten zehn Sefiroths wiedergegeben werden. — Eins ist die erste Zahl im Universum und stellt als höchste Form die Gottheit selbst dar. Das manifestierte Licht, sowie alles, was aus demselben erschaffen wurde, ist Gott in seiner Einheit, die sich auch in allen anderen Zahlen in den verschiedenen Manifestationszuständen spiegelt. Wohlweislich wird in der hebräischen Kabbalah die Eins als Kether = Krone bezeichnet. Überall, wo man die Gottheit auf irgend eine Weise kennzeichnen wollte, wurde sie mit der Zahl Eins wiedergegeben (9).“

          Im Sepher Jesirah, dem hebräischen Buch der Schöpfung, finden sich viele Hinweise zum kabbalistischen Lebensbaum, z. B.: „Die zehn Sephiroth, welche Krone, Weisheit, Einsicht, Gnade, Macht, Schönheit, Triumph, Glorie, Basis und Reich heißen, werden in der Form eines Baumes gruppiert, der deshalb Baum der Kabbalah genannt wird. ... Zehn Zahlen ohne etwas, zehn und nicht neun, zehn und nicht elf; verstehe mit Weisheit und erkenne mit Einsicht, prüfe durch sie und erforsche von ihnen, wisse, rechne und zeichne; stelle die Sache in ihre Klarheit und setze den Bildner auf seine Stätte; denn er ist der einzige Schöpfer und Bildner, und nicht gibt es einen außer ihm; seine Attribute sind zehn und haben keine Grenze (10).“

          Auch auf die Analogien zwischen den zehn Sefiroth und dem Menschen finden sich in der Kabbalah viele Hinweise, z. B. im Buch Bahir: „Und warum geschieht dies Segnen durch Handauflegen? Dies geschieht, weil zehn Finger an den Händen sind, ein Hinweis auf die zehn Sefiroth, mit denen Himmel und Erde versiegelt sind. ... Er hat gelehrt: Es gibt zehn Sphären und es gibt zehn Logoi, und jede Sphäre hat ihren Logos, nicht in dem Sinne, daß er sie umgibt, sondern daß er ihre Ursache ist (11)?.“

          Wo immer in der Bibel die Zahl zehn verwendet wird, darf demnach ein Zusammenhang mit den zehn Sefiroth vermutet werden, beispielsweise bei den Zehn Geboten oder in 5 Mose 10,4: „Und er schrieb auf die Tafeln, ebenso wie die erste Schrift war, die zehn Worte, die der HERR auf dem Berg mitten aus dem Feuer zu euch geredet hatte am Tag der Versammlung.“

          Wie aus der Tabelle ersichtlich, stehen die Sefiroth in Analogie zu der Hierarchie der Himmel oder Sphären, worüber ich im nächsten Kapitel ausführlicher schreibe, wobei an oberster Stelle der Gottesname JHVH erscheint. Philosophisch gesehen gehören die Begriffe Akasha und En-Soph zur Zahl 1., also in eine Reihe mit dem Gottesnamen JHVH, weil diese Zahl in der Esoterik immer der Gottheit analog ist. Einige Geheimnisse dieses göttlichen Namens JHVH sollen hier zur Sprache kommen. Dabei möchte ich auch darauf hinweisen, wie durch die Übersetzung eines Wortes der ursprüngliche Sinn verlorengehen kann. Beispielsweise heißt es in der Einleitung der Elberfelder Bibel auf Seite VI: „Bei der Revision wurde daher ,Jehova' durch ,HERR' ersetzt, und zwar mit Großschreibung aller Buchstaben, damit der Leser erkennen kann, daß an dieser Stelle im Grundtext die Buchstaben JHWH stehen.“

          Dieser im Grundtext der Bibel gebrauchte Gottesname JHWH ist identisch mit dem Tetragrammaton (Vierbuchstabenwort) J-H-V-H (Jod-He-Vau-He) der Kabbalah, wozu Bardon in „Der Schlüssel zur wahren Kabbalah“ u. a. schreibt: „Gott hat das ganze Universum und damit seine Wesenheit in bezug auf die Schöpfung, mit seiner Gesetzmäßigkeit, mit dem vierpoligen Magneten, also mit vier Buchstaben zum Ausdruck gebracht. Die hebräische Kabbalah wählte für diese vier Buchstaben die Benennung Jod-He-Vau-He, welche niemals laut ausgesprochen werden durfte und vielfach mit dem Namen Tetragrammaton oder Adonai umschrieben wurde. Deshalb ist auch der Geist eines jeden Menschen, der das vollkommene Bild Gottes in der Schöpfung darstellt, vierpolig und hat – wie schon wiederholt gesagt – vier dem Namen Gottes entsprechende Grundprinzipien. Das erste aktive dem Feuerelement unterstellte Prinzip ist der Wille (Jod), das zweite dem Luftelement unterstellte Prinzip ist der Intellekt (He), das dritte dem Wasserelement unterstellte Prinzip ist das Gefühl (Vau) und alle drei Grundprinzipien des Geistes, also alle drei Elemente zusammen, bilden das vierte aktive Prinzip, welches sich im Bewußtsein äußert und dem Erdelement analog ist. In der kabbalistischen Terminierung wird das vierte Prinzip durch das zweite He ausgedrückt (12).“

          In den magischen Lehren von Bardon werden demnach die Buchstaben des Tetragrammatons in Beziehung zu den vier Elementen gesetzt und gleichzeitig darauf hingewiesen, daß der menschliche Geist entsprechend den Grundprinzipien der Gottheit zusammengesetzt ist. Einige Teile dieser Lehre finden sich auch im Sepher Jesirah: „Drei Mütter A-M-Sch, dies ist ein großes, verborgenes und verhülltes Geheimnis, versiegelt mit sechs Siegelringen, und aus diesen kamen Luft, Wasser und Feuer hervor. ... Drei Mütter, A-M-Sch; die Erzeugung des Himmels ist das Feuer, die Erzeugung der Luft ist der Wind und die Erzeugung der Erde ist das Wasser; das Feuer oben, das Wasser unten und die Luft ist eine schwankende Satzung zwischen beiden; aus ihnen entstanden Väter und aus ihnen wurde alles geschaffen (13).“

          Nach den Lehren der Kabbalah wurde der Kosmos durch das magische Wort geschaffen, wie von Bardon ausführlich beschrieben. Die hier genannten Buchstaben hängen mit der Urzeugung der Elemente zusammen. Nach diesen Lehren repräsentiert das Alphabet die göttlichen Ideen und die zehn Sefiroth die göttlichen Gesetze.

          Wie bereits erwähnt, haben Zahlen immer einen geheimen Zusammenhang mit den zehn Sefiroth, so auch hier. Wenn oben also von „sechs Siegelringen“ die Rede ist, dann deutet dies hin auf einen inneren Zusammenhang mit der sechsten Sefirah Tiphereth, der Sonnensphäre, weil diese die Sphäre der Urschöpfung ist, worauf ich noch zurückkomme.

          An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß sich die Offenbarung Gottes durch die zehn Sefiroth nach den okkulten Lehren auf drei Ebenen vollzieht die in meiner Tabelle auf Seite 17 unter der Überschrift „Hauptsphären“ zu finden sind. Diese werden geistige (mentale), seelische (astrale) und physische oder grobstoffliche Ebene genannt. Das Zwischenglied zwischen der geistigen und seelischen Welt heißt bei Bardon „Mentalmatrize“, und jenes zwischen der seelischen und physischen Ebene „Astralmatrize“. Die Planetensphären, vom Mond bis zum Saturn, sind ausschließlich geistiger Natur und erheben sich über der geistigen oder mentalen Welt von Malchuth. Diese Lehre von den geistigen Sphären ist auch in der allgemeinen jüdischen Mystik zu finden: „Luria nahm fünf Welten an, die von der Gottheit bis zur niederen, freilich ihrer Natur nach noch geistigen Welt herabreichen. Dies sind der Adam Kadmon, die Welt der Aziluth oder Emanation, die Welt der Beri'a oder Schöpfung (die Welt des göttlichen Thrones), die Welt der Jezira oder Formung (die Engelwelt) und die Welt der Assijja, was man am besten mit Werkvollendung oder Konkretisation übersetzen dürfte. Jede dieser Welten, die alle vom Rhythmus der zehn Sefiroth bestimmt sind, zerfällt in die fünf Konfigurationen oder Parzufim (wörtlich: Gesichter), zu denen die Sefiroth in jeweilig verschiedener Weise zusammentreten und von denen jede wiederum eine unendliche Zahl sefirotischer Strukturen und verborgener Welten enthält (14).“

          In der Allgemeinliteratur wird meistens nur eine undeutliche Trennung zwischen geistig-seelischer und physischer Ebene vorgenommen. Jedenfalls geht diese Betrachtung davon aus, daß jede Offenbarung Gottes zuerst in den geistigen Welten oder Ebenen erfolgt, dann bis zur seelisch-astralen Ebene verdichtet wird, um zum Schluß, falls notwendig, auf der physischen Ebene zu erscheinen. Aus okkulter Sicht ist demnach physische Materie verdichteter Geist. Diese Kenntnisse sind bereits für ein Verständnis der Genesis der Bibel von großer Bedeutung. Immer wenn in der Bibel von Himmel die Rede ist, wird bezug genommen auf die genannten geistigen und seelischen Ebenen oder Sphären, was in der Bibel jedoch nicht immer deutlich wird. Während z. B. der Beginn der Schöpfung in der Bibel reichlich kurz ausgefallen ist – Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde – , wissen die Apokryphen darüber noch ganz andere Dinge zu berichten:

          „Am Anfang, am ersten Tag, dem heiligen Sonntag, dem Anfang und Erstgeborenen aller Tage, schuf Gott Himmel und Erde, Wasser, Luft und Licht, d. h. die Engel und Erzengel, die Thronen, Fürsten, Herrschaften, Machthaber Kerube und Seraphe, alle Ordnungen und Heere der Geister. — Am zweiten Tag schuf Gott den untern Himmel und nannte ihn Firmament; dies zeigt, daß das Firmament nicht die Natur des obern Himmels hat und in seinem Aussehen von dem Himmel über ihm, d. h. vom obern, feurigen Himmel, verschieden ist. Jener zweite Himmel ist aus Licht und dieser untere von fester Substanz (15).“

          Was hier als „feuriger Himmel“ bezeichnet wird, ist völlig identisch mit den geistig-seelischen Sphären des Okkultismus und der Kabbalah. Dieser Ausschnitt ist jedenfalls ein besonders deutliches Beispiel dafür, welcher Schaden der Bibel durch den Hinauswurf der Apokryphen durch die Kirche entstanden ist. Selbstverständlich beziehen sich auch die Begriffe Feuer, Luft, Wasser und Erde auf die geistige Ebene, sofern von der Urzeugung die Rede ist.

          Auch im Sepher Jesirah werden diese Tatsachen angeführt: „Vier, (Luft aus) Feuer (und Erde) aus Wasser, und er zeichnete und schnitt daraus den Thron, die Ophannim und Seraphim, die heiligen Tiere und die Dienstengel. (Und von ihnen dreien gründete er seinen Wohnsitz, denn so heißt es: Er macht seine Engel aus Geist und seine Diener aus Feuerflammen) (l6).“

          Nach Bardon ging das Feuerelement als erstes aus dem Uräther hervor, was auch im Kommentar von G. Scholem deutlich wurde: „Indem sich also das mystische Jod, der gestaltlose Urpunkt, aus dem Äther Gottes löste, entstand aktuell das Licht. Dies wird an vielen Stellen im Sohar vorgetragen (17).“

          Obwohl der Begriff Himmel exakt den geistig-seelischen Sphären gleichgestellt werden muß, wurde er oft auch als Ersatz für Gott benutzt, wofür ich noch ein Beispiel aus dem Buch Bahir bringen möchte: „Und woher wissen wir, daß der Himmel Feuer ist? Aus dem Vers (Deuter. 4,24): denn der Ewige, dein Gott, ist zehrendes Feuer. Und woher, daß mit ,Himmel' Gott gemeint ist? Aus dem Vers (1. Reg. 8,32): Und du höre, Himmel. Betet denn Salomo etwa zum Himmel, er solle ihr Gebet hören? Sondern doch zu ,Jenem, der nach deinem Namen genannt wird', denn es heißt (1. Reg. 8,27): Die Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht. So ist der Himmel der Name Gottes und ist Feuer (18).“

          Ein großes Erkenntnisproblem ist aber nicht nur mit der Offenbarung Gottes an sich verbunden, sondern insbesondere mit der Tatsache seiner Offenbarung als Dualität oder Polarität. Die Aussagen der Bibel darüber, daß der eine Gott sich ausschließlich als Dualität offenbart, sind jedenfalls eindeutig, z. B. in 1. Mose 1,3: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Und Gott sah das Licht, daß es gut war, und Gott schied das Licht von der Finsternis.“

          Dieser Satz gehört aus okkulter Sicht bereits an den Anfang der Genesis, weil die Erscheinung der Gegensätze sofort mit dem ersten Funken der göttlichen Offenbarung beginnt, die nach der Kabbalah mit dem Urfeuer, dem das Urlicht entstammt, seinen Anfang genommen hat. Das Bibelzitat mache jedenfalls klar, daß Gott sowohl das Licht als auch die Finsternis geschaffen hat.

          Mit der Dualität von Licht und Finsternis hängt aber auch die religiöse Ansicht von Gut und Böse zusammen. Jede tiefere Meditation über diese Problematik fahrt zu dem Schluß, daß diese Dualität für das menschliche Erkenntnisvermögen eine Notwendigkeit ist, weil jedes Objekt der sichtbaren Schöpfung sein spezifisches Sein nur dadurch besitzt, daß es sich von anderen Objekten in irgendeiner Form unterscheidet. Licht würde beispielsweise ohne die Existenz der Finsternis seine Existenz verlieren, worauf auch Scholem hingewiesen hat: „Gerade die streng theistische Tendenz dieser Kabbala sieht das Böse also als ein notwendigerweise der Schöpfung als solcher inhärierendes Moment, ohne welches die Schöpfung sogleich ihr spezifisches Sein verlieren und zum Sein des En-Sof zurückkehren würde (19).“

          Das Gute verdankt demnach seine Existenz dem Bösen, weil es ohne diesen Gegensatz verschwinden würde. Auf diese Tatsache ist auch in Jes 45,6 hingewiesen worden: „Ich bin da HERR (JHVH) — und sonst keiner —, der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Frieden wirkt und das Unheil schafft.“ Oder im Sepher Jesirah: „Auch hat Gott das Eine gegen das Andere gemacht, das Gute gegen das Böse und das Böse gegen das Gute, Gutes aus Gutem und Böses aus Bösem; das Gute unterscheidet das Böse, und das Böse unterscheidet das Gute; Gutes ist aufbewahrt für die Guten, und Böses ist aufbewahrt für die Bösen (20).“

          Auch die christlichen Theologen haben sich natürlich mit diesem Problem befaßt, kommen jedoch eigenartigerweise, trotz der aufgezeigten eindeutigen Aussagen der Bibel, zu recht unterschiedlichen Ergebnissen und Aussagen. So schreibt Von Petersdorff: „Der hl. Augustinus kommt immer wieder darauf zurück, die göttliche Zulassung des Bösen zu rechtfertigen. ,Das Böse', das ,überhaupt nicht ohne das Gute bestehen kann' und also nichts ,anderes' als ,ein böses Gutes' ist, ,steht am rechten Platz ... ist wohl eingeordnet in diese Gesamtwelt'. ,Gott hielt es für besser, selbst aus dem Bösen Gutes zu schaffen, als überhaupt nichts Böses zuzulassen'. ,Nicht bloß das ist gut, daß es Gutes, sondern auch, daß es Böses gibt', sonst wäre es nicht zugelassen worden (21).“ Zwar befand sich Augustinus auf der richtigen Fährte, aber die Tatsache, daß Gott bezüglich der Schaffung der Dualität in eine Notwendigkeit gesetzt war, wenn eben die menschliche Entwicklung der gegenwärtigen Form entsprechen sollte, hat er keineswegs begriffen. Positive philosophische Fortschritte sind seit Augustinus offensichtlich nicht gemacht worden bezüglich dieses wichtigen Grundproblems. Bei den modernen christlichen Autoren scheint völlige Verwirrung zu herrschen. Dabei wird das abstrakte Böse meistens personifiziert durch Teufel und Dämonen, wovon im nächsten Kapitel die Rede sein wird. Beispielsweise wird erklärt:

          „Das IV. Laterankonzil hat zwar im Jahr 1215 erklärt: ,Der Teufel und die übrigen Dämonen wurden von Gott von Natur aus gut geschaffen; sie wurden aber durch ihre eigene Schuld böse', diese Aussage darf aber nicht für sich allein interpretiert, sondern muß in Zusammenhang gesehen werden mit der Absicht des Konzils, die Irrlehren der Katharer zurückzuweisen. Diese behaupten nämlich, es gebe neben und gegen Gott ein absolut böses Prinzip, das gleich ewig und gleich mächtig wie Gott sei. Das IV. Laterankonzil hat streng genommen nur definiert: Es gibt kein absolut böses Prinzip, das Gott ebenbürtig gegenübersteht, denn auch der Teufel und die Dämonen sind, wenn sie existieren, nur als aus eigener Schuld böse gewordene Geschöpfe, die von Gott ursprünglich und eigentlich zum Guten berufen waren, aber von ihm abgefallen sind, aufzufassen (72).“

          Demnach auch hier die völlige Unfähigkeit, zu begreifen, daß das Gute ohne das Böse nicht existieren kann für den Menschen. Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß das böse Prinzip gleich mächtig wie Gott ist, denn es unterliegt völlig der göttlichen Allmacht. Die Dualität von Gut und Böse hat nur Bedeutung für das Menschsein, nicht aber für das Gottsein, weil Gott in seiner ungeoffenbarten Form eine Einheit ist. Die Ursachen für gutes und böses Wirken liegen immer im Menschen, während Gott Licht und Finsternis nur als Wahlmöglichkeit hingestellt hat, um dem Menschen eine freie Entwicklung zu ermöglichen. Daraus folgt weiterhin, daß der Mensch Eigenverantwortlichkeit besitzt, worauf ich im Kapitel über die Ethik zurückkommen werde.

          Zunächst soll hier dargelegt werden, wie sich die Offenbarung des Tetragrammaton JHVH aus okkulter Sicht zu den göttlichen Grundeigenschaften verhält, die ja auch in der Bibel teilweise genannt werden. Die folgende kleine Tabelle soll dies verdeutlichen:

Gott - Tetragrammaton - Akasha

En-Soph - Makrokosmos

1. Jod—Feuer

Allmacht

2. He—Luft

Weisheit, Allwissenheit

3. Vau—Wasser

Liebe, Leben, Unsterblichkeit

4. He—Erde

Allgegenwärtigkeit,

kosmisches Ich-Bewußtsein

          Wie hier gezeigt, drückt sich die Gesamtheit Gottes durch das kosmische Ich-Bewußtsein aus, worauf in 2. Mose 3 klar hingewiesen ist: „Siehe, wenn ich zu den Söhnen Israel komme und ihnen sage: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mich fragen: Was ist sein Name?, was soll ich dann zu ihnen sagen? Da sprach Gott zu Mose: ,Ich bin der Ich-Bin.' Dann sprach er: ,So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: Der Ich-Bin hat mich zu euch gesandt'.“

          Gott nennt sich also selbst den Ich-Bin, das seiende oder lebendige Ich, womit er die Gesamtheit des Tetragrammaton JHVH ausdrückt. Grundsätzlich darf gesagt werden, daß bezüglich der Grundeigenschaften Gottes zwischen den exoterischen und esoterischen Lehren große Übereinstimmung besteht, wie ein paar Beispiele aus dem katholischen Erwachsenenkatechismus zeigen: „Gott ist Liebe. Er durchdringt, umfängt, durchwaltet alles. Er ist grenzenlos, unendlich und deshalb allgegenwärtig. In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir (Apg 17,28). Man nennt dies die Immanenz Gottes. Gott ist allwissend. Gott ist allmächtig. Gott ist gerecht. Gott ist gütig und barmherzig (23).“

          Die Tatsache, daß der Geist des Menschen in Analogie zu den vier Elementen, den dynamischen Grundlagen Gottes, geschaffen wurde, wird in der Bibel vorsichtshalber verschwiegen. Dort heißt es lediglich: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie (I Mose 1,27).“

          In den von der Kirche verworfenen Apokryphen ist der Prozeß bei weitem deutlicher dargestellt: „Und sie sahen Gottes Rechte sich über die ganze Welt ausbreiten und ausstrecken, und alle Geschöpfe versammelten sich in seiner rechten Hand. Dann sahen sie, wie er aus der ganzen Erde ein Staubkörnchen nahm, von allem Wasser ein Wassertröpfchen, von aller Luft oben ein Windlüftchen und von allem Feuer ein wenig Wärmehitze. Und die Engel sahen, wie diese vier schwachen Elemente, Kälte, Wärme, Trockenheit und Feuchtigkeit, in seine hohle Hand gelegt wurden. Dann bildete Gott den Adam. ... Und Gott bildete Adam mit seinen heiligen Händen nach seinem Bild und Gleichnis (24).“

          Unmißverständlich wird hier auf die elementarischen Grundlagen in Verbindung mit dem Tetragrammaton, dem Vierbuchstabenwort JHVH, hingewiesen. Dabei ist selbstverständlich von der geistigen Schöpfung die Rede. Der biblische Teilsatz „als Mann und Frau schuf er sie“ weist auf den menschlichen Zustand vor der Geschlechtertrennung hin. Der Mensch war also in seinem Urzustand ein Zwitter oder Hermaphrodit. Auf die Geschlechtertrennung wird in der Bibel erst dort hingedeutet, wo von der Erschaffung Evas die Rede ist. In den zukünftigen Erdzuständen, bei Steiner mit den Begriffen Venus, Jupiter und Vulkan bezeichnet, wird der Mensch auch wieder über die Geschlechtertrennung hinauswachsen, was mit der fortschreitenden Vergeistigung zu tun hat. Diese Überwindung der physischen Materie wird in der Bibel meist mit dem Begriff „Auferstehung“ umschrieben. Darauf ist in Mt 22,29 hingewiesen: „Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Ihr irrt, weil ihr die Schriften nicht kennt, noch die Kraft Gottes; denn in der Auferstehung heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel im Himmel.“

          Nachdem nun die elementaren Grundlagen der Analogie zwischen Gott und Mensch zusammengetragen sind, sollen die damit verbundenen Grundeigenschaften des menschlichen Geistes noch tabellarisch dargestellt werden:


Menschlicher Geist - Mikrokosmos - Akasha

1. Jod — Feuer = Wille

2. He — Luft = Intellekt, Verstand (Denken)

3. Vau — Wasser = Liebe, Leben (Gefühl)

4. He — Erde = Ich- oder Selbstbewußtsein


          In der Seele oder dem Astralkörper des Menschen kommen die Grundeigenschaften des Geistes im Charakter und im Temperament zum Ausdruck. Auch die Analogien zu den drei Welten sollen noch verdeutlicht werden, um die Vorstellung zu erleichtern, wie der Mensch in diese Welten eingespannt ist:



Mensch

Welten oder Ebenen

1. Geist, Mentalkörper

Geistige oder mentale Welt

2. Mentalmatrize

 

3. Seele, Astralkörper

Seelische oder astrale Welt

4. Astralmatrize

 

5. Physischer Körper

Physische oder grobstoffliche Welt


          In der Kabbalah wird der geistige Urmensch Adam Kadmon genannt, wozu Scholem anmerkte: „Dazu ist freilich zu bemerken, daß vor dem Fall dieser Adam, der in Kreatürlichem das Abbild des Adam Kadmon in der höchsten aller Welten bildet, noch keinen materiellen Körper wie jetzt besaß, sondern aus Lichtsubstanz und Lichtkleidern als seinem ,Körper-Gewand' bestand (25).“

          Auf die geistige Analogie zwischen Gott und Mensch wird auch in der Bibel öfter hingewiesen, z. B. in Joh 4,24: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten.“ Oder 1. Kor 3,16: „Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“

          Wie vorne gezeigt, drückt Gott die Gesamtheit seines Wesens durch das Ich aus. Es ist somit verständlich, daß der Mensch ebenfalls die Gesamtheit seines Wesens als Ich bezeichnet. Rudolf Steiner hat in seinen interessanten Ausführungen über die Entwicklung des Selbstbewußtseins bereits darauf hingewiesen, daß das Wort „Ich“ das einzige ist, mit dem der Mensch nur sich selbst bezeichnen kann. Die Wichtigkeit des Ichs wurde von ihm stets hervorgehoben, was die folgenden Sätze besonders deutlich machen: „Denn was heißt Mensch werden? Das heißt: zum Ich-Bewußtsein kommen. Sie können das nicht, wenn Sie sich als Ich nicht von einem Äußeren unterscheiden. Nur dadurch sind Sie ein Ich. Durch dieses Ich, das durch nichts anderes ausgedrückt, mit nichts anderem vertauscht werden kann, erhebt sich der Mensch über alle anderen irdischen Wesen, über die TierweIt und über die ganze Schöpfung. Und es ist das einzige, was ihn mit dem unendlichen Ich, mit Gott, verbindet (26).“

          Auch in der jüdischen Mystik spielte die Analogie zwischen dem göttlichen und menschlichen Ich eine große Rolle, wie Scholem ausführte: „So sagt etwa Mose Azriel, ein Chassid des 13. Jahrhunderts: ,Er ist Einer im Weltäther, denn er erfüllt den ganzen Äther und ist in jedem Ding der Welt, und da ist nirgends eine Scheidewand vor ihm. Alles ist in ihm, und er sieht alles, denn er ist ganz und gar Sehen, ohne daß er doch Augen hätte, denn er hat die Kraft, in seinem eigenen Wesen das All zu sehen'.— Aber Gott in der äußersten seiner Manifestationen, da wo die ganze Fülle seines Wesens noch einmal im letzten und allumfassendsten seiner Attribute zur Wirkung kommt, heißt Ich. Dieses Ich Gottes ist nach den Kabbalisten der theosophischen Schule — und dies ist eine ihrer wichtigsten und tiefsten Lehren — die Schechina, die Gegenwart und Immanenz Gottes in aller Schöpfung. Sie ist der Punkt, an dem der Mensch, wenn er sein eigenes Ich am tiefsten erkennt, am ehesten mit Gott, mit dem göttlichen Ich, zusammenstößt (27).“

          Mit der Entwicklung des Selbstbewußtseins, des Ich-Bewußtseins, ist somit der wahre Sinn des Menschendaseins verbunden, womit ich mich in den folgenden Kapiteln noch weiter beschäftigen werde. Aus okkulter Sicht ist demnach die Interpretation der katholischen Kirche unrichtig, wonach der Mensch lediglich eine Art Adoptivkind Gottes ist. Der katholische Erwachsenenkatechismus sagt dazu aus: „Denn nach der Bibel ist Gott unser gemeinsamer Vater nicht aufgrund unserer gemeinsamen Natur, sondern aufgrund der Erwählung (28).“

          Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich die Folgerung, daß eine Erkenntnis Gottes durch den Menschen nur im Rahmen seiner Offenbarung möglich ist, worauf auch Bardon klar hingewiesen hat: „Als universales Prinzip, als höchste Wesenheit, ist Gott unfaßbar und unvorstellbar. Erst in seiner Spaltung, d. h. aus der Erschaffung des Universums, also aus seinem Wirken, kann man analoge Schlußfolgerungen ziehen, um die Größe und Erhabenheit Gottes wenigstens einigermaßen zu verstehen (29).“

          Die vorstehende Aussage braucht kein Anlaß zu Pessimismus zu sein, denn ich denke, daß das geoffenbarte Universum den Erkenntnisdrang der Menschen noch recht lange beschäftigen kann. Zum Abschluß dieses Kapitels möchte ich noch kurz auf eine Besonderheit bezüglich der Schaffung des Menschen in der Bibel hinweisen. Es heißt dort in 1. Mose 1,26: „Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich.“

          Wo hier „Gott“ übersetzt wurde, steht im hebräischen Grundtext das Wort „Elohim“. Nach der okkulten Lehre ist Elohim aber nicht nur einfach ein Name Gottes, sondern bezeichnet eine bestimmte Engelgruppe, zur Sonnensphäre Tiphereth gehörend. Rudolf Steiner bemerkte dazu u. a.: „Auf der Sonne blieben wohnen die Wesenheiten, welche die geistigen Lenker der irdischen Ereignisse sind. Die Genesis nennt sie Elohim, Lichtgeister (30).“

          Gott beschließt also, durch die Elohim den Menschen zu schaffen, deshalb heißt es im obigen Satz „Laßt uns“, und nicht „Laßt mich“. Solche „Kleinigkeiten“ werden natürlich von den of offiziellen Bibelauslegern gerne übersehen, wozu der Christus schon anmerkte: „Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, so werden beide in eine Grube fallen (Mt 15,14).“

*

          Im modernen Atheismus hat man sich angewöhnt, nicht mehr von einem Gott als Schöpfer und Erhalter des Kosmos zu sprechen, sondern eine Schöpferkraft konstruiert, der man den Namen „Urknall“ gegeben hat. Die Lehrer dieser Urknalltheorie, die Urknallologen, behaupten nun, daß das Universum nicht durch den bewußten Willensakt eines intelligenten Gottes geschaffen wurde, sondern zufällig durch den Urknall hervorgebracht wurde.

          Dazu soll einer der berühmtesten Vorkämpfer des modernen Atheismus, der Pazifist und Humanist Bertrand Russel, zu Wort kommen: „Nun ich behaupte nicht dogmatisch, daß es keinen Gott gibt. Was ich behaupte, ist, daß wir nicht wissen, ob es einen Gott gibt. — Ich behaupte nicht, beweisen zu können, daß es keinen Gott gibt. Ebensowenig kann ich beweisen, daß Satan eine Fiktion ist. Vielleicht gibt es einen christlichen Gott wirklich, vielleicht die Götter des Olymps, des alten Ägyptens oder Babylons. Keine dieser Hypothesen ist wahrscheinlicher als die andere: Sie liegen außerhalb des Bereiches eines auch nur wahrscheinlichen Wissens, und es gibt daher keinen Grund, eine davon gelten zu lassen (31).“

          So einfach ist das! Die Götter werden als Hypothesen abgetan, und wenn er schon die Existenz eines Gottes nicht dogmatisch widerlegen kann, so kann er doch immerhin mit der Autorität des Gelehrten bestimmen, wo die Grenzen des menschlichen Wissens liegen, obwohl die „Philosophie da Freiheit“ von Steiner zur Zeit dieser Aussage schon dreißig Jahre alt war.

          Der Atheismus hat verschiedene Auslegungen, wozu ein „streitbarer Atheist“ wie Joachim Kahl meint: „Auch der Atheismus durchläuft eine Entwicklung, bildet verschiedene Stufen und Typen aus. Auch der Atheismus ist keine zeitlose Gegebenheit, keine ein für allemal feststehende Größe (32).“

          Offenbar ist der Autor der Ansicht, es sei nicht ausgeschlossen, daß sich der Atheismus eines Tages wieder in einen Theismus verwandelt, falls sich die Beweislage ändern sollte. Alles in allem gibt es jedenfalls für den Gottgläubigen keinen Grund, vor dem naturwissenschaftlichen Atheismus zu Kreuze zu kriechen, wie sich noch zeigen wird.

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