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Quelle: D. Rüggeberg: Theosophie und Anthroposophie im Licht der Hermetik |
Kabbalah
Die Wissenschaft des Wortes
D ie Beschreibung der Praxis der Wissenschaft des Wortes entspricht der Enthüllung der Symbolik der dritten Seite aus dem heiligen Buch der Weisheit, dem Tarot. Es gibt für diese Wissenschaft verschiedene Namen, entsprechend den verschiedenen Traditionen. Danach wird die Wissenschaft des Wortes hier im Westen Kabbalah genannt, während sie z. B. im Osten Tantrismus heißt. Die Anwendung der Universalgesetze beruht jedoch grundsätzlich auf denselben Methoden, sofern es sich um die wahre Wissenschaft des Wortes handelt, wie uns Franz Bardon lehrt. Damit der Leser gleich zu Beginn dieses Kapitels sich einen Begriff von dieser Wissenschaft bilden kann, möchte ich ein paar Sätze darüber von Bardon voranstellen. In der «Kabbalah» auf Seite 19 heißt es:
„Kabbalistisch sprechen heißt aus Buchstaben Worte bilden, welche den Universalgesetzen gemäß dieser oder jener Idee entsprechen. Die Anwendung der kabbalistischen Sprache muß praktisch geübt werden. Kabbalah ist demnach die Universalsprache, mit welcher alles erschaffen wurde, sie ist die Verkörperung einer oder mehrerer göttlicher Ideen. Durch Kabbalah – also durch die Universalsprache – hat Gott alles erschaffen. Auf Kabbalah weist auch der Evangelist Johannes in der Bibel hin, indem er sagt: ‘Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.’ Dadurch bringt Johannes klar zum Ausdruck, daß sich Gott des Wortes bediente, um durch dieses aus sich selbst zu schaffen.“
Zu der Tatsache, daß die kabbalistische Einweihung die höchste Stufe aller magischen Einweihungen ist, habe ich bereits ein Zitat gebracht. Über die Reife, die für die praktische Anwendung der Kabbalah notwendig ist, hat Bardon seine Schüler deutlich belehrt, so heißt es in «Kabbalah» auf Seite 10:
„Wer sich mit Theurgie (Kabbalah) befaßt, muß unbedingt eine magische Entwicklung schon hinter sich haben, d. h., daß er zum mindesten die Praktiken meines ersten Werkes, «Der Weg zum wahren Adepten», vollkommen beherrschen muß.“ Und auf Seite 20: „Hieraus geht klar hervor, daß ein vollkommener Kabbalist ein Gottverbundener ist, ein Mensch, der Gott in sich realisierte und sich als Gottmensch der Universalsprache bedient, indem er das, was er spricht, gleichzeitig verwirklicht.“
Die praktischen Übungen zur Ausbildung des Kabbalisten stehen natürlich wieder im Zusammenhang mit den Grundeigenschaften der vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde. Eine spezielle Ausbildung des physischen Körpers ist nicht erforderlich. Natürlich ist mir klar, daß die Zeit für eine Veröffentlichung der praktischen Kabbalah zu Lebzeiten von Blavatsky und Steiner noch nicht gekommen war. Beide Autoren haben aber in ihren Werken auf die Wissenschaft des Wortes hingewiesen, und deshalb möchte ich auch diese Hinweise vor dem Hintergrund der Hermetik betrachten. Frau Blavatsky hat in ihrer «Isis entschleiert» ausführlich dargelegt, daß sich die christlichen aus den heidnischen Mysterien herleiten, und insbesondere aus der Kabbalah. Nach guter wissenschaftlicher Manier wurden die verschiedenen Lehrsysteme von ihr nebeneinandergestellt und miteinander verglichen, wobei sie sogar zu der Aussage kommt:
„Die Esoterik jeder Religion kann durch die Kabbala gelöst werden. ... Und so könnte es geschehen, daß, falls ein Kabbalist, der sein ganzes Leben dem Studium des Okkultismus gewidmet und das große Geheimnis errungen hat, die Bemerkung wagt, die Kabbala allein führe zum Wissen des Absoluten im Unendlichen und des Unbestimmten im Endlichen, er von allen ausgelacht wird, die wegen der Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises, betrachtet in physikalischem Sinne, diese auch in metaphysischem Sinne leugnen“ (Isis I, S. 271 u. 407).
Wie man sieht, hatte sie eine hohe Meinung von der Kabbalah. Die Tatsache, daß Steiner diese Ausführungen weder kommentierte noch dementierte, läßt darauf schließen, daß er ihnen nichts entgegenzusetzen hatte. Das Übergehen der Darlegungen von Blavatsky zeugt jedenfalls nicht von wissenschaftlicher Objektivität, sondern zeigt, daß er den heidnischen Mysterien mit weit mehr Vorurteilen und Antipathien gegenüberstand als sie den christlichen. Ein Vergleich der Ausführungen Blavatskys mit Steiners Werk ‘Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums’ kann jedem Leser darüber Klarheit verschaffen. Im genannten Buch von Steiner findet sich auch ein Kapitel über die Apokalypse des Johannes, zu der es bei Blavatsky heißt: „Es fällt schwer, den wohlangeführten Beweisen zu entschlüpfen, daß die Apokalypse das Produkt eines initiierten Kabbalisten ist, da seine ‘Offenbarung’ ganze Seiten aus dem Buche Enochs und Daniels darstellt“ (Isis II, S. 147).
In Geh. III schreibt Frau Blavatsky: „Die transzendentalen Methoden der Kabbalah dürfen in einem öffentlichen Werke nicht erwähnt werden; aber ihre verschiedenen Systeme, auf arithmetische und geometrische Weise gewisse Symbole zu enträtseln, können beschrieben werden (S. 98). – Die fundamentale geometrische Figur der Kabbalah, wie sie in dem Buch der Zahlen gegeben ist, die Figur, die, wie die Überlieferung und die esoterischen Lehren uns sagen, von der Gottheit selbst dem Moses auf dem Berge Sinai gegeben worden war, enthält den Schlüssel zu dem universalen Probleme in seinen großartigen, doch einfachen Kombinationen. Diese Figur enthält in sich alle anderen. Die Symbolik der Zahlen und ihrer mathematischen Wechselbeziehungen ist auch eine von den Zweigen der Magie, insbesondere der mentalen Magie, der Wahrsagung und richtigen Wahrnehmung im Hellsehen (S. 99). ... Der gelehrte Hebräist Molitor sagt in seinem Werke über die Überlieferung: «Die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets wurden als eine Emanation oder als der sichtbare Ausdruck, der dem unaussprechlichen Namen (Tetragrammaton, d.V.), innewohnenden göttlichen Kräfte betrachtet» (S. 104). – Kurz gesagt, die sieben physischen Planeten sind die niederen Sephirot der Kabbalah, und unsere dreifache physische Sonne, deren Widerschein allein wir sehen, ist durch die Obere Dreiheit, oder die Sephirothische Krone symbolisiert oder vielmehr personifiziert“ (S. 459).
Im letzten Zitat muß jeweils das Wort physisch durch das Wort geistig ersetzt werden, denn selbstverständlich beziehen sich die Sephiroth auf die geistigen Sphären der Hierarchie und nicht auf die physischen Planeten.
Es gibt noch viele andere Hinweise bei ihr zur Kabbalah, die aber alle nur auf den Rahmen hinweisen und nicht geeignet sind, dem Leser ein Wissen von der Praxis zu vermitteln. In welcher Weise die Buchstaben eines Alphabets, nicht nur des hebräischen, eine Beziehung zu den göttlichen Kräften und Eigenschaften gewinnen können, davon kann man sich nur ein Bild machen, wenn man ein Wissen von der Art besitzt, wie es bei Bardon dargestellt ist.
Bei Steiner finden sich ebenfalls viele Hinweise zur Wissenschaft des Wortes. Dabei wird der Begriff Kabbalah offensichtlich sorgfältig von ihm vermieden, was mir insofern wieder vollständig unverständlich ist, weil die Hinweise von Frau Blavatsky doch wohl deutlich genug waren.
U. a. sagte er in GA 94: „Das Bewußtsein wird seine Vollendung erreichen, wenn er (der Mensch, d.V.) imstande sein wird, in sein Wort dieselbe schöpferische Kraft einfließen zu lassen, mit der heute sein Gedankenleben begabt ist. Gegenwärtig vertraut er nur seine Worte der Luft an. Wenn er sich zu einem höheren schöpferischen Bewußtsein erhoben hat, wird er der Luft Bilder mitteilen können. Das Wort wird dann in vollem Sinne eine lebendige Imagination sein. ... Und wenn der Mensch verstehen wird, das Leben auf das Höchste, was in ihm ist, zu übertragen, werden diese Bilder ein eigenes, wirkliches Leben erlangen, vergleichbar der tierischen Existenz. Dann wird der Mensch letzten Endes sich selbst reproduzieren können (V. v. 11. 6. 1906). ... Heute kann das Wort geistige Erlebnisse durch die Luft weitergeben, später wird man durch das Wort lebendige Wesenheiten hervorbringen, und schließlich wird das Wort selbst schöpferisch sein: da werden die Menschen Magier des Wortes sein (V. v. 8. 7. 1906). ... Der Mysterienlehrer machte dem Schüler klar: So wie der Mensch spricht und sein Inneres losringt in die Luft, so sprach auch die Weltenseele in eine viel feinere Materie hinein, in die Akasha-Materie, und diese wurde darauf fest. Alles um uns herum ist verdichtetes Gotteswort. So, sagte der Mysterienlehrer, ist die Welt ringsherum ein gefrorenes Gotteswort, ein gefrorener Logos. «Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott» (GA 97, V.v. 12.2.1906). ... Und wie der Mensch heute Worte hervorbringt mit seinem Kehlkopf, so wird sein Kehlkopf später ein Produktionsorgan sein; immer höhere und höhere, dichtere und dichtere Schöpfungen wird er hervorbringen. Was heute nur Luft ist, wird in Zukunft Wesenheit sein. Wenn sich die Erde in den Jupiter verwandelt haben wird, wird das Wort schöpferisch sein im Mineralreich; im Venuszustand wird der Kehlkopf Pflanzen hervorbringen; und so wird es weitergehen, bis er seinesgleichen hervorzubringen vermag“ (GA 100, V.v. 28.6.1907).
Aus hermetischer Sicht haben die Worte von Steiner durchaus Realität, insbesondere bezüglich der Zeiträume, die er innerhalb der menschlichen Entwicklung für die Anwendung der Kabbalah andeutet. Vor diesem Hintergrund erhält die Veröffentlichung der praktischen Kabbalah in dieser Zeit ein besonders großes Gewicht, und zeigt, wie weit die Werke von Bardon in die Zukunft reichen. Aus dem Werk «Der Schlüssel zur wahren Kabbalah» geht allerdings hervor, daß es zur Anwendung dieser Wissenschaft keiner besonderen Entwicklung des Kehlkopfes bedarf.
Obwohl die Zitate beweisen, daß Steiner einiges Wissen von der Kabbalah besessen hat, so gibt es andererseits Aussagen, die seine Grenzen in dieser Beziehung deutlich machen. So sagte er in GA 231, V.v. 17.11.23: „Die geistige Marsbevölkerung besteht aus den Kennern der Weltensprache, neben denjenigen Wesenheiten, die Kampfnaturen sind und dergleichen. ... Aber die für den Menschen wichtigsten Wesenheiten der geistigen Marsbevölkerung sind diejenigen, die eigentlich ihrer ganzen Natur nach bestehen aus ertönendem Weltenwort. Sie sind die Bewahrer desjenigen, was Weltensprache ist.“
Nach hermetischer Lehre ist diese Aussage nur teilweise richtig, denn aus den Beschreibungen der geistigen Wesen der Planetensphären in «Die Praxis der magischen Evokation» geht ganz klar hervor, daß es in allen Sphären bis hinunter zur Erdgürtelzone Wesen mit kabbalistischen Fähigkeiten gibt.
In GA 353 findet sich unter dem Datum vom 10.5.1924 ein kompletter Vortrag über den Sephirotbaum. Dieser Vortrag ist insofern bemerkenswert, als Steiner das Kunststück fertigbringt, darin nicht ein einziges mal den Begriff Kabbalah zu benutzen, obwohl dieser mit dem Sephirotbaum so eng verknüpft ist wie der Christus mit dem Christentum. Ohne die mit diesem eigenartigen Verhalten verknüpfte Problematik psychologisch vertiefen zu wollen, muß ich es unwissenschaftlich nennen. Man darf nämlich nicht vergessen, daß sich jüdische und christliche Geisteswissenschaftler bereits seit Jahrhunderten mit dem kabbalistischen Sephirotbaum beschäftigt hatten und viele Bücher darüber existierten, was auch aus den Werken von Blavatsky eindeutig hervorgeht. Diese gesamte Literatur über die höchste aller okkulten Geisteswissenschaften wurde von Steiner mit keinem Wort gewürdigt, obwohl ihm Frau Blavatsky viele wichtige Lehren daraus bereits vorgebetet hatte. Wo bleibt hier die so oft beschworene Achtung und Verantwortung des Okkultisten vor den Geistesforschern der Vergangenheit und Gegenwart? Selbst die umfangreichen und qualitativ hochstehenden kabbalistischen Veröffentlichungen von Dr. Erich Bischoff, zwischen 1900 und 1920, wurden mit keinem Wort erwähnt. Bedingt durch diese eigenartige Geisteshaltung Rudolf Steiners gegenüber der Kabbalah klafft im anthroposophischen Wissenssystem eine große Lücke bezüglich eines der wichtigsten Gebiete der okkulten Wissenschaften.
Der Sephirotbaum steht in Analogie zu den von Bardon beschriebenen zehn kabbalistischen Schlüsseln und umfaßt praktisch die ganze Schöpfung, was man auch aus der Hierarchie von Robert Fludd auf Seite 35 ablesen kann.
Die Frage nach der Beherrschung des Roten Meeres durch Moses beantwortet Steiner in GA 353, V.v. 20.5.1924 folgendermaßen: „Nun gibt es ja im Meere eine gewöhnliche Zeit von Ebbe und Flut, eines solchen Steigens und wiederum Zurückgehens, und die Sache war eben diese, daß Moses den Übergang über das Rote Meer so anzustellen wußte, daß er mit seinen Leuten hinüberkam zu einer Zeit, als das Meer zurückgegangen war und eine Sandbank, die dadurch sichtbar geworden ist, das heißt, bloßgelegt worden ist, benützt werden konnte, um hinüberzugehen. Also das Wunder besteht nicht darinnen, daß etwa Moses das Rote Meer zurückgedämmt und bekämpft hat, sondern darinnen, daß er tatsächlich mehr wußte als die anderen, daß er die Zeit in der richtigen Weise wählen konnte.“
Hier haben wir ein typisches Beispiel dafür, wie Steiner versucht jedes der sogenannten Wunder der Bibel auf ganz natürliche Vorgänge zurückzuführen. Ist es doch nach seiner Auffassung ganz unmöglich, daß bereits ein heidnischer Adept vor Christus volle Herrschaft über die physische Materie besaß. Natürlich ist mir bekannt, daß sich so manche wunderbare Erzählungen in alten Urkunden nicht auf physische Vorgänge, sondern auf solche innerhalb der Mysterien bezogen, aber eben durchaus nicht alle, wie Steiner seine Leser glauben machen möchte. Er hatte offensichtlich weder eine Ahnung vom Einweihungsgrad des Moses noch von der Macht eines wahren Kabbalisten. Aus hermetischer Sicht ist die Aussage von Steiner unrichtig, denn nach den Aussagen von Bardon hat Moses sehr wohl das Rote Meer mit Hilfe der Kabbalah geteilt. Die dafür verwendete kabbalistische Formel findet der Leser auf Seite 237/4. Auflage des Werkes «Der Schlüssel zur wahren Quabbalah (Kabbalah)». Was der naive Mensch als Wunder bestaunt, beruht eben einfach auf der praktischen Anwendung geistiger Gesetze und Kräfte.
Wie Bardon darlegt, gelten die Zahlen von 1 bis 10 als Grundzahlen und umfassen die Gesetze des gesamten Kosmos, in Analogie zu den zehn Sephirot. Wenn also in der Hermetik von Grundzahlen die Rede ist, dann handelt es sich immer um diese Zahlen. Blavatsky und Steiner haben darauf hingewiesen, daß manche Zahlen in religiösen und esoterischen Urkunden verschlüsselt sind, wofür auch einige Beispiele angeführt wurden. Hier möchte ich nur hindeuten auf einen Irrtum von Steiner in GA 113, V.v. 30.8.1909, wo er sagte: „Die Grundzahl des Raumes ist Zwölf.“
Zwölf ist zwar eine Zahl des Raumes, aber nach hermetischer Lehre nicht die Grundzahl, weil Grundzahlen nur innerhalb der Zahlen von 1 bis 10 auftreten können. Bei der Beschreibung des magischen Dreiecks weist Bardon darauf hin, daß die Drei als Grundzahl des Raumes gilt. Im vorliegenden Fall kann die Grundzahl auf zwei Arten ermittelt werden, 1. durch Addition, denn 1+2=3, und 2. durch Division, denn 12:4=3. Die Zwölf steht in Analogie zum Tierkreis, und die Tierkreiszeichen sind nach den vier Elementen geordnet, darum wurde durch vier dividiert. Der Tierkreis als Symbol des Raumes ist also entstanden durch 3x4=12. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch darauf hinweisen, daß alle durch die Genien der geistigen Hierarchien vertretenen kosmischen Kräfte von Bardon in Analogie zum Tierkreis gesetzt wurden.
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